Puppenspiel auf dem Liboriberg um 1900
Aus einem alten Monatsheft von 1941/42 zum Thema Puppenspiel:
In sehr einfühlsamer Weise berichtet Fritz Martin Rintelen über den alten Puppenspieler Jakob Rotenhagen, der zusammen mit seiner Frau und einem pferdegezogenen Wagen auf dem Weg zu den Quellen der Pader.
Grund für die Fahrt ist die Aufführung auf dem Liboriberg, der Kirmes anlässlich des jährlichen Schützenfestes.
Eindrucksvoll berichtet F. M. Rintelen über das Kaspertheater des alten Puppenspielers, der selbst in der Nähe von Paderborn geboren sein soll.
F. M. Rintelen (er besuchte zum Schützenfest seine Großmutter in Paderborn), erzählt auch von seinen eigenen Amateur-Puppentheater und beweist sich in einer umfassenden kulturhistorischen Zusammenfassung zur Entwicklung des Puppenspiels in Deutschland und Europa als großer Kenner des Fachs.
Wunderschöne Aquarelle verschiedener Puppenbühnen dieser Zeit zieren das sechsseitige Blättchen, das für unsere Region und für das Puppenspiel allgemein von historischer Bedeutung ist.
Wir haben uns die Mühe gemacht und den gesamten Bericht mit Bildern allen Interessierten zugänglich gemacht.
Leider sind keine Bilder von Puppenspieler Rotenhagen oder seinem Puppenspiel vorhanden.
Darum unsere Frage:
Wer verfügt über weitere Informationen oder hat Bilder von dem Puppenspieler Jakob Rotenhagen, der um 1940 regelmäßig auf dem Liboriberg auftrat?
Wer war der puppenspielbegeisterte Fritz Martin Rintelen? Wo lebte er?
Jeder, der uns weiterhelfen kann, erhält Freikarten für unser Abend-Programm für Erwachsenen!
Rückmeldungen bitte direkt in unser Gästebuch auf unserer Homepage oder der Kasperhotline 05251/777112.
Und hier der tolle Bericht:
Fünf Jahrzehnte Freundschaft mit einem Tausendjährigen!
Von Fritz Martin Rintelen
Auf der nächtlichen Landstraße ächzte und knarrte ein Fuhrwerk hinter dem müde schreitenden Pferde. Eine Eule schrie im schwarzen Wald. An der Deichsel des Wagens schwankte eine runde Laterne. Das trübgelbe Licht glitt an dem tiefgesenkten großen Kopf des mageren Pferdes hinauf. Auch die rechte Gesichtshälfte Jakob Rotenhagens wurde von unten herauf gelblich beleuchtet, so dass die linke Hälfte seines Kopfes um so schwärzer blieb, und der alte Fahrende mit nur einem halben Schädel neben seinem schnaufenden Gaul durch die Dunkelheit zu schreiten schien.
Das holpernde Fuhrwerk war ein windschief gewordener Wohnwagen, der eine wunderliche große Familie über die Landstraße trug. Die Ältesten der vielen Kinder Jakob Rotenhagens stammten noch von seinem Großvater. Eines war ein prächtiger König, der Purpur, Zepter und Krone auch zum Schlafen ebenso wenig ablegte wie seine Minister und Hofherren Ihre Orden, die anderen waren Kriegsleute, Bürger und Bauern, Weise und Narren, Tod und Teufel, anmutige, liebenswerte Damen und hässliche, zänkische Weiber.
Alle hingen jetzt stumm in bunter Reihe an den Innenwänden des morschen Wagens und schlenkerten gespenstig ihre zappeligen Glieder bei jeder knirschenden Drehung der niedrigen Räder über einen Steinbuckel oder durch eine Pflasterfurche der Straße.
An manchen Abenden aber, wenn Rotenhagen seinen Wagen in einer Ortschaft anhielt, wurden sie von überströmendem, schicksalhaftem Leben erfüllt. Ihre Künste, mit denen sie um Gunst und Gabe warben, waren mannigfach und groß. Sie konnten sich nach Belieben verrenken, auf den Händen laufen, mit abgeschlagenem Kopf umherhüpfen, an den Wänden emporklettern, durch die Luft fliegen, sterben und auferstehen.
Sie stürzten sich aus Liebe, Spaß und Spott in Zorn, Hass, Raserei und alle Schmerzen.
Sie schlugen Purzelbäume aus tiefster Verzweiflung zu fröhlichem Gelächter.
Die Rotenhagen stammten aus einem Dorf in Westfalen, unweit der Stadt, zu der jetzt der alte Jakob wieder auf Fahrt war.
Aber schon drei Generationen aus dem reichen Lande der sonst so Sesshaften waren als Puppenspieler umhergezogen.
Der Enkel hatte schlohweißes Haar und wusste nichts mehr von festem Haus und Hof.
Jakobs Frau aber war vor sechsunddreißig Jahren aus einem Bauernhaus im Hanauer Land dem damals lichtblau gestrichenen Wohnwagen gefolgt.
Vorher hatte sie oft, an statt auf den Acker zu gehen, zwischen Dorf und Nachbardorf auf der Hexenkuppe im Gras gesessen und sich sehnsüchtig in der weiten Landschaft umgesehen, die von Taunus, Vogelsberg, Spessart, Rhön, Odenwald, Bergstraße und Donnersberg begrenzt ist.
Auf dem stillen Hügel waren in schlimmer Zeit vier arme alte Weiber miteinander verbrannt worden.
Die Bauern gehen noch jetzt nicht gern dorthin.
Aber die Hanne hatte immer wieder die einsame Höhe besucht, um von dort in die goldene Ferne auszuschauen.
Als lange Zeit nach ihrer Flucht der blaue Wagen wieder einmal in ihre Heimat kam, stand das Elternhaus nicht mehr.
Von der Familie war niemand mehr im Dorf ansässig, und über das väterliche Grundstück, das sich im Keimen und Reifen weit ausgebreitet hatte, erstreckte sich der graue Schlackenberg einer lärmenden Maschinenfabrik.
An jenem Tage hatte die Frau erkannt, dass der blaue Wagen und seine Bewohner nicht mehr recht in die Zeit passten, obwohl noch immer die Jugend den Kasperl allerorten mit Freude begrüßte.
Das Pflaster der Landstraßen war besser geworden, als es zu Anfang ihrer Irrfahrt gewesen.
Aber die Stimmen der holzgeschnitzten Männlein und Weiblein durchdrangen nicht das Tosen der neuzeitigen großen Maschinen.
Das Lachen Kasperles, des Ältesten von Jakob Rotenhagens Kindern, war erstarrt. Und dem so Verwandelten war der Puppenspieler selbst ähnlich geworden.
Von Kindheit an in vertrautem Umgang mit den drahtbewegten Puppen, hatte der Mann schließlich viel von ihrer Art angenommen.
Sein Gesicht war eingefallen, hart und verwittert, als wäre es aus Holz geschnitzt.
Die Kleider umschlotterten seinen Leib, als ob er das vielgliederige Gestell einer menschengroßen Marionette wäre.
Seine Bewegungen, wenn er den Kopf ruckweise nach rechts oder links drehte, wenn er die Arme von sich stieß, wenn er ging, sich setzte, sich bückte, waren wie von den Drähten des Puppenspielers gelenkt.
Der Wagen knarrte und rumpelte langsam vorwärts.
Schon dämmerte der Morgen herauf, als ein frischer Windstoß das heisere Gebell eines Hundes herantrug.
Jakob Rotenhagen und sein Pferd hoben, wie an unsichtbaren Drähten, die Köpfe. Ein einzelnes Haus stand vor ihnen an der Straße, jetzt ein zweites, ein drittes und viertes.
Sie sahen den mächtigen grauen Turm des Domes aufragen, der über den Quellen der Pader gebaut ist.
Schützenplatz und Liboriberg der alten Stadt waren seit vielen Tagen Ziel der Wanderung vieler fahrender Leute gewesen, dieser Außenseiter im großen Rennen um Glück und Gewinn, dieser Traumwandler, Kunstreiter, Tänzer auf dem Seil, Ringer am Abgrund, Wolkenkuckucksheimer.
Der Wohnwagen Jakob Rotenhagens rumpelte durch die Reihen der Zelte und Bretterbuden nach dem angestammten Standplatz.
Dort begannen der Puppenspieler und seine Frau sogleich mit dem Aufschlagen des hundertmal geflickten und gestopften Zelthauses, der kleinen Bühne, der Bänke für die Zuschauer.
Schon in den frühen Morgenstunden erschienen die ersten Besucher des Festplatzes, neugierige Buben und Mädel, die es nicht erwarten konnten, in dieser Wunderwelt umherzustreifen, den Geruch von Tieren, Sägespänen, Karbid und Benzin zu wittern, das Gebrüll eines Löwen aus der Zirkusmenagerie zu hören, einen schnellen Blick in die Schaubuden zu werfen oder gar in einen der schicksalbeladenen bunten Wohnwagen.
Wenn in jenen vergangenen Jahren ich selbst allsommerlich an diesem ersten Vormittag des großen Schützenfestes im bequemen Eisenbahnzug auf der blanken Schienenstrecke neben der staubigen Landstraße nach Paderborn gefahren kam, um für ein paar Wochen die Großmutter zu besuchen, freute sich das Jungenherz wohl am meisten auf die Parade der Grünrücke am Morgen, das knatternde Feuerwerk am Abend und besonders auf des alten Jakob Rotenhagen Puppenspiel auf dem Liboriberg, das dem Knaben alle Märchenwunder leibhaftig erstehen ließ.
Zu Hause wurde es in dem Bühnenrahmen, den eine Stuhllehne hergab, wiederholt. Meine ersten Schauspieler waren Tücher mit dicken Knoten als Köpfen.
Jedoch sie lebten leidenschaftlich und waren bedingungslos bereit zu allen bösen und edlen Taten.
Schattentheater, Handpuppen und Marionetten sind bis heute mein Lieblingsspielzeug geblieben.
Als ich längst verheiratet war und die ersten grauen Haare bekam, habe ich mir noch einmal eine große Marionettenbühne gebaut.
Sie war nicht für Kinder bestimmt, sondern eine ernsthafte Angelegenheit für erwachsene Freunde, die in jenem Herbst und Winter an einem Abend jeder Woche als Mitwirkende oder Zuschauer einer Puppenkomödie bei mir zusammenkamen.
Sie erschienen anfangs mit ungläubigem Kopfschütteln und geringschätzigem Lächeln.
Aber keiner hatte nur einmal vor der kleinen Zauberbühne gesessen, der nicht mit wahrer Freude und innerlicher Anteilnahme immer wiederkam, wenn eine neue Aufführung stattfand.
So haben wir damals in Jahren bedrückender wirtschaftlicher Sorgen einen anregenden und unterhaltsamen Ersatz gefunden für kostspielige, doch überholte Formen der Geselligkeit.
Wie lebendig das Marionettenspiel selbst, obwohl des alten Rotenhagen Gilde schon zu seiner Zeit am Aussterben war, bis zu diesem Tage geblieben ist, zeigen die Möglichkeiten, die es in jetzt erneuerter Form auch für die fröhlich-ernsthafte Auseinandersetzung mit allen bewegenden Tagesfragen, für die geistreiche, heiter überlegene Behandlung aller auffallenden Zeiterscheinungen bietet.
Daher ist es noch heute kein Einzelerlebnis, dass die kleinen hölzernen Komödianten tiefere Empfindungen wecken und klarere Erkenntnisse vermitteln als mancher Schauspieler des großen Theaters.
In der Gliederpuppe, die von unsichtbarer Hand an Drähten bewegt wird, sehen wir uns selbst in unserer schicksalsharten Gebundenheit.
Dabei gibt es aber eine sehr merkwürdige Umkehrung.
Während der Mensch mit allen Kräften des Leibes und der Seele emporstrebt, und doch am Irdischen festgehalten wird, möchte die Marionette immer nach unten und kann sich doch nicht niederlassen, weil sie von oben gezogen wird.
Die Hand- und Stockpuppe aber will in sich zusammenfallen, will sich unter jedem Schicksalsschlag niederlegen wie ein armer hilfloser Mensch und wird doch von unten immer wieder zu guten und bösen Taten aufgerichtet.
Dazu kommt jener romantische Spott, der in einem alten Puppenspiel den Wurstel mit Schadenfreude dem Teufel, als er ihm die Seele abfordert, antworten lässt: “Fahr’ zur Hölle! Ich habe gar keine Seele, du dummer Teufel. Ich bin von Holz, und als ich gemacht wurde, waren keine Seelen mehr vorrätig.”
Jeder Möglichkeit der Einordnung in die Register und Akten der gut organisierten Spießbürger aber entgeht der Kasperl mit seiner Aussage: “Ich bin ein Findelkind. Meine Mutter hab’ ich nicht gekannt und meinen Vater hab’ ich nie gesehen. Der Ort meiner Geburt liegt zwischen Sankt Niklas und Nimmerleinstag, eine Viertelstund’ hinter dem ersten April.”
Und das erscheint uns glaubwürdiger und klarer als die Aussage der Gelehrten, dass der närrische Weise und weise Narr samt den Puppenspielern, die ihn den mehr oder weniger törichten Mitmenschen vorführen, aus Indien stammen und schon in grauer Vorzeit als Vidusaka, das heißt Lustigmacher, auf die Fahrt um die weite Welt gegangen sei.
“Liebe Menschen,” sagt der Kasperl der Hohnsteiner Puppenspiele, “ihr müsst entschuldigen, dass ich so von oben auf euch hinunterschaue. Ich weiß ganz genau, dass es nicht im Sinne der Volksgemeinschaft ist, wenn einer auf die anderen hinabschaut. Aber das geschieht bei uns Holzköpfen aus technischen Gründen. Soweit es bei den Menschen selber auch noch vorkommt -und es soll noch vorkommen -, geschieht es nicht aus technischen Gründen. Keiner soll sich was draus machen. Wer einem begegnet, der auf ihn herabschaut, der soll den Kopf zurückwerfen, ihn auch anschauen und dabei denken: ‘Du Kerl hast einen Holzkopf!’
“Wenn unsere Köpfe aus Holz sind, müssen wir so reden, wie uns der Schnabel geschnitzt ist. Nicht eine Miene verziehen wir, wenn wir den Menschen unsere Meinung sagen. Mancher versteht es, mancher nicht, trotzdem klatschen beide. Jeder denkt, der andere ist gemeint. Dabei meinen wir jeden, der vor unserer Bühne sitzt.”
“Schön sind wir nicht. Aber man sagt, dass wir charakteristisch sind. Meine Großmutter” -das war Kasperls Gretl beim Jakob Rotenhagen – “sagte einmal ganz richtig: ‘Wir wollen lieber weniger schön sein und dafür mehr Charakter haben.’ Bei den Menschen ist es leider oft umgekehrt. Wir reden nur, wenn wir auf der Bühne sind. Sonst liegen wir in der Kiste und sind ganz still. Es geht in unserer Kiste sehr friedlich zu, alle liegen brav beieinander, König und Teufel, Ritter und Tod, Bauern und Grafen, Geister, Minister und Klatschbasen. Wenn wir recht beisammen sind, meckert keiner, und alle sind zufrieden.
Die Menschen können sich also ein Beispiel an uns nehmen.”
“Ich habe die Menschen sehr gern, und viele haben mich auch gern.” -Ja, lieber Kasperl! – “Mit denen habe ich Freundschaft geschlossen, und es wird allemal ein Fest, wenn wir wieder beisammen sind. Und die anderen Kruzitürken, wer mich nicht gern hat, der kann mich einmal besuchen und dann wird er mich auch gern. haben. Mahlzeit! Servus! Grüß Gott! Guten Morgen! Guten Mittag! Guten Abend! Habe die Ehre! Glückauf und Auf Wiedersehen!”
Trotz aller Lustigkeit Kasperls ist die Marionette ein dämonisches Wesen, ihr Handeln ist nur Schein, und sie wird von unserer Hand nach unserm Willen gelenkt, um dann aber mit jeder ihrer lächerlich rührenden Bewegungen uns zu bezaubern und zu erregen, wie nur ein Geschöpf seinen Meister erregen kann.
“Ah da schau’, Freunderl, bist eh schon da! Und wann i da bin , bin i da. Mich freut’s, dass wir uns wiedersehen. Grüß Gott, jünger bist nicht g’worden. Was sagst, bald fünfzig Jahr’ hast. auf dem Buckel’ O jegerl ja, die Zeit vergeht, und die Welt draht sich um und um. Alsdann, neue Zeiten, neue Sitten. Mir g’fallt’s! Früher hat mich der Gendarm g’fragt, ob, wann, wo i g’boren bin. Jetzt verlangen’s von mir einen Ahnenpaß. Aber i hab’ meine Sippe gut beinand’. Wir san eine der Ältesten und einigsten paneuropäischen Familien.”
Und der Kasperl erzählt: Bewegliche Puppen des Altertums sind vielfach ausgegraben worden. Xenophon berichtet im “Gastmahl”, dass der aufmerksame Wirt Kallias sich zu einem Festmahl, an dem auch der weise Sokrates teilnahm, den bekannten Puppenspieler Potheinos verschrieben hatte, der mit seinen hölzernen Figuren der fröhlichen Gesellschaft eine Vorstellung gab. Von den römischen Marionetten erzählt Horaz. Er nennt sie “ein durch fremde Sehnen bewegliches Stück Holz”. Auch das frühe Mittelalter kennt Marionetten. In der berühmten Enzyklopädie “Hortus Deliciarum” der Äbtissin Herrad von Lalldsberg befindet sich die Darstellung zweier mit Schwert und Schild gegeneinander kämpfender gepanzerter Ritter, die an Schnüren bewegt wurden. Cervantes, der spanische Sittenschilderer seiner Zeit, lässt seinen Helden Don Quichotte in die Bude eines fahrenden Puppenspielers kommen. Der irrende Ritter sieht “Die Befreiung der schönen Melisandra, durch den Helden Gayferos”, und Don Quichotte wird durch die Darstellung so erregt, dass er das ganze Theater in Stücke schlägt. – Italien mit seinem temperamentvollen Volks- und Straßenleben ist von alters her eine rechte Heimat der Marionetten geblieben. Zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts gab es kaum eine italienische Stadt ohne Puppentheater. Berühmt waren die Marionetten auf der Riva dei Schiavoni zu Venedig, auf dem Largo dei Castello von Neapel, auf der Piazzo Navona in Rom.
Die Franzosen haben dem Puppenspiel seinen noch heute volkstümlichen Namen “Marionette” gegeben. Der Kardinal Mazarin, der ein begeisterter Verehrer der Marionetten war, ließ in Paris durch Theatinermönche ein Krippenspiel aufführen, und diese Darstellungen blieben bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich bestehen. Die geistreiche Schriftstellerin George Sand und ihr Sohn Maurice unterhielten sich auf ihrem Schloss Nohant aufs beste mit einem eigenen Puppentheater. – Das alte deutsche Puppenspiel schüpfte sein zauberisches
Leben aus den Volksbüchern vom Doktor Faust, von der Genoveva, den vier Haimonskindern, von Fortunatus und seinem Glückssäckel und vom Till Eulenspiegel. Als der Dreißigjährige Krieg die furchtbarste Not und unsagbares Leid über ganz Deutschland brachte, waren es allein die wandernden Puppenspieler, die von ihrer kleinen Bühne herab dem Volke den Sinn für theatralische Darstellungen bewahrten, indem sie es bald auf heitere Art durch den Hanswurst und Seinesgleichen, bald ernsthaft in romantisch rührenden Stücken aus den täglichen Sorgen in eine andere, geistige Sphäre erhoben. So halfen sie, ihm den letzten Funken Lebenskraft zu erhalten.
In Hamburg sah man um das Jahr 1670 in einer Bude der Neustädter Fuhlentwiete “Die öffentliche Enthauptung des Fräulein Dorothea”, und wenn die Zuschauer lange genug Beifall klatschten, ließ der Direktor der armen Dorothea den Kopf wieder aufsetzen und die Enthauptung wiederholen. Im Jahre 1740 spielten an der gleichen Stelle die Bayreuther privilegierten Komödianten die “Aktion vom unglücklichen Todesfall Karls XII. von Schweden”. Hierbei wurde die Festung Fried- richshall zweimal bombardiert, die Bomben “spielten accurat ein und aus und als etwas Curieuses rauchte eine Marionette Tabak”. In Berlin führte als erster der Schneider Reibehand das Spiel mit hölzernen Puppen vor. Danach erschien der privilegierte baden-durlachische Hofkomödiant Titus Maas mit seinen Marionetten. Im achtzehnten Jahrhundert gab es in Berlin mehrere ständige Puppentheater, von denen uns der Mathematiker Euler berichtet hat, und in den Wirtshäusern, den Tabagien, kehrten Puppenspieler ein, die bei alt und jung außerordentlich beliebt waren.
Eine weitberühmte Heimstätte fand das Marionettentheater in München, wo es durch den bayrischen Generalmajor Karl Wilhelm von Heydeck, der auch ein tüchtiger Maler war, begründet worden ist. Heydecks Puppenspiel übernahm später der Aktuar Josef Schmid, dem Franz Graf von Pocci seine Stücke schrieb.
Und Poccis Kasperl springt noch heute auf die Spielleiste und auf die Bühne: “Potz, Donner und Blitz! Das ist wieder einmal eine angenehme Gegend. Beim schönen Wetter sind wir aufgesessen. Wie’s geblitzt und gedonnert hat, ist der Ritter von seinem Schimmel abg’sessen, und mich hat mein Bräunel abg’schmissen. Wir sind alle zwei zu Fuß da g’standen, und die Rössl sind davon g’laufen. Hätt’ ich nicht mein Parapluie unterm Arm gehabt, so wär’ ich ohne Zweifel ertrunken und läge jetzt als eine leblose Leiche im schauerlichen Wald, um die Auferstehung zu erwarten. Das heißt man Schicksal. Aber ich lebe noch!”
Unser alter Freund Kasperl lebt noch. Die NS.-Gemeinschaft “Kraft durch Freude” pflegt, heute auch das Puppenspiel und wird dabei von der Reichsjugendführung, der Frauenschaft, dem Lehrerbund, der NSV. unterstützt. Das geschieht in voller Würdigung der hohen, gemeinschaftsbildenden Kraft und politischen Bedeutung, die das Puppenspiel als überliefertes Volkstum in sich trägt. Daher ist eine strenge Auslese durchgeführt worden, und heute haben wir in Deutschland Puppenspielbühnen, deren Aufführungen sich mit denen jedes guten Theaters messen können, deren Vorstelllungen neben den besten Konzerten und Vortragsveranstaltungen im Abendprogramm der Kulturgemeinde mit Erfolg bestehen. Auch zu unseren Soldaten in den besetzten Gebieten fahren die Puppenspieler hinaus, um den Tapferen Freundschaft und Freude aus der Heimat zu bringen.
Im Mittelpunkt auch der neuen Spiele steht noch immer der volkstümliche, närrisch kluge Kasperl, dieser unerschrockene, mit Mutterwitz begabte, natürliche und kerngesunde Bursche, dessen Kampf gegen Tod und Teufel und alles Unrecht auf Erden ein leicht faßliches Sinnbild des deutschen Lebens ist, und der so zu einem heiteren Erzieher der Kleinen und der Großen wird. Die tiefste Fröhlichkeit des Herzens, die größte Lebenszuversicht sind sein Element. Er lässt sich nicht unterkriegen, so derb ihn auch das Schicksal schüttelt. Er überlistet den Teufel und schlägt den Tod tot. In jeder Lebenslage findet er sich zurecht und ist dabei ein treuer, gutherziger Kerl, der für seinen Herrn tapfer durchs Feuer geht. In seinem Wesen durchaus nicht so ungeschlacht, wie mancher annimmt, sondern von einem edlen, fast grazi?sen Anstand, ist er oft sogar übertrieben höflich, zudem mitleidig und mitunter von einer rührenden Zärtlichkeit. Wenn er auch nicht zu den solidesten Ehemännern gehört und sein Gretel nicht immer wie ein gurrender Tauber behandelt, so kann sie sich doch im Grunde keinen besseren Mann wünschen, und die kleinen häuslichen Spektakelszenen schließen immer mit einem vergnüglichen Versöhnungstanz.
Kasperl Larifari ist ein Meister des Springens, der Purzelbäume, des Kopfstehens, wenn diese närrischen Bewegungen einem fröhlichen Purzelbaum der Gedanken entspringen. Er lehrt uns, wie bedauernswert, noch in Glanz und Ehren, im Grunde alle Menschen sind, deren Wissen und Wille nicht auch einmal kopfstehen kann, so dass sie den Aktenbogen mit lustigen Schnörkeleien füllen, über den Rinnstein springen, seiltänzerhaft auf der Steinfugen des Pflasters balancieren, die aufgepustete Zigarrentüte -patsch!- mit den Händen zerklatschen, eine braune Kastanie vor sich hertrudeln, auf den Rummelplatz gehen und Karussell fahren.
Jakob Rotenhagens Spiel auf dem Paderborner Liboriberg ist nur noch eine Erinnerung an die Kindheit eines F?nfzigj?hrigen. Aber diese Erinnerung lässt mich in trüber Stunde noch heute manchmal lachen. Es hat mich so sehr zu Kasperls Freund gemacht, dass ich mir auch ihn zum Freunde gewann, und der gute alte, ewig junge hat mich immer aufs neue reich beschenkt. So ist wohl manches Spiel und manches Spielzeug ebenso wichtig wie viele Gewerke und Werkzeuge. Sind nicht auch die größten Männer einmal klein gewesen? Entdecker und Erwecker haben strampelnd auf, der Mutter Armen gelegen. Erfinder und überwinder haben ihre ersten Hosen zerrissen. Genies von unbegrenzter Vorstellungskraft und Willensstärke, die mit kühnem Griff die Ideen ihrer Zeit in die Wirklichkeit hineinrissen, haben die Spiele gespielt, die allgemein sind und so alt wie die Menschheit selbst. Der verständige Beobachter aber entdeckt schon im Spiel manchen Zug, der auf Charakter und Neigungen des Erwachsenen hinweist. Die frühe Freundschaft mit dem Kasperl ist ein gutes Zeichen für die Aufgeschlossenheit und Regsamkeit der Kindesseele, so wie die späte Freundschaft mit ihm der sichere Beweis eines junggebliebenen Herzens sein mag.